Alles auf Go: Wie ein einzelner Ingenieur über das Schicksal der Mondlandung entscheiden musste

Der 21. Juli 1969 ist ein typischer Sommertag in Houston: Es ist heiß und schwül. Gewitter ziehen über den Himmel. Auch im NASA-Kontrollzentrum ist die Atmosphäre aufgeladen. Hier bereiten sich alle darauf vor, die Besatzung von Apollo 11 möglichst sicher Richtung Mond zu lotsen. Steve Bales, Mission Guidance Officer, erinnerte sich: „An diesem Morgen beobachtete ich, wie die anderen Mitglieder des Landeteams zur Schicht erschienen. Und ich sage Ihnen, von denen hatte kein einziger ein Lächeln auf dem Gesicht. Die Stimmung war angespannt. Es lag etwas in der Luft.“

Bales und seine Kollegen vom Kontrollzentrum sind sich an diesem Tag über den heraufziehenden Sturm der Ungewissheit im Klaren, der nur wenige Stunden später Neil Armstrong und Buzz Aldrin zu schaffen machen wird. Die Mondlandefähre „Eagle“ (Adler) wird sich von ihrem Kommandomodul, der Columbia, abkoppeln – und zur Landung auf dem Mond ansetzen.

Ein 26-Jähriger kriegt die Kontrolle

NASA Kontrollzentrum 1969 Quelle: NASA

Genau 100 Stunden und 12 Minuten nach dem Start erhält die Besatzung der Apollo 11 ihren Marschbefehl zum Mond. Und die dreiköpfige Astronautencrew macht sich an die Arbeit: Mike Collins inspiziert das Raumschiff, es folgen Tests für den Bremsflug Richtung Mond. Der Plan: Armstrong und Aldrin sollen mit dem Eagle auf dem Mond landen; Collins wird an Bord der Columbia den Mond umkreisen und auf die Rückkehr der beiden Astronauten warten.

Für den gerade einmal 26-jährigen Bales im Kontrollzentrum in Houston schien dieser Tag lange Zeit unvorstellbar. Der Abschluss seines Studiums der Luft- und Raumfahrttechnik an der Iowa State University ist gerade einmal fünf Jahre her. Nachdem die NASA ihn eingestellt hat, wird Bales nur wenige Monate später der Flugüberwachung zugeteilt: einem kritischen Bereich, der für die ständige Kontrolle der Position des Raumschiffs und seiner Steuerungssysteme verantwortlich ist. Die dafür zu dieser Zeit verwendeten Computer sind im Vergleich zu den Smartphones, Tablets und Laptops von heute primitiv. Für Bales aber „waren sie die einzigen verfügbaren Werkzeuge, mit denen das Raumschiff sicher zum Mond gebracht werden konnte.“

Bei seiner ersten Mission wird Bales im Alter von nur 23 Jahren als Fluglotse für Gemini 10 eingesetzt. Damals steckt das Raumfahrtprogramm noch in den Kinderschuhen, und weil die NASA ihr Kontrollzentrum möglichst schnell besetzen muss, erhält Bales zusammen mit zahllosen anderen jungen Ingenieuren die Gelegenheit, sich als eine Art Gründungsmitglied einer nagelneuen Organisation seine Lorbeeren zu verdienen. „Alles war neu: die Menschen, die Raketen und die Technik. Wir begannen mit einem unbeschriebenen Blatt und mussten für jedes einzelne System Verfahren entwickeln“, erinnert sich Bales.

Allein die Rakete für das Apollo-Programm besteht aus über fünfeinhalb Millionen Teilen und komplexen Systemen, die sowohl von der Besatzung als auch den Ingenieuren im NASA-Kontrollzentrum auf dem Boden bedient und überwacht werden müssen. Alles muss fehlerfrei funktionieren.

Simulationen sollen auf jede Art von Notfall vorbereiten

Um die Sicherheit der Besatzung zu wahren und den Erfolg der Mission zu garantieren, werden ganze Bände von Missionsrichtlinien verfasst und in praxisnahe Simulationen eingebaut. Diese Stress-Szenarien sollen die Besatzung wie auch das Kontrollzentrum auf jede denkbare Situation vorbereiten: Alarme, Systemausfälle und anderen Notfällen.

Eine neue Regel sieht außerdem vor, dass der Guidance Officer, also in diesem Fall Steve Bales, zu Abbrüchen befugt ist – und dafür die volle Verantwortung trägt. „Für mich war das ein Schock. Wir haben diese Regel, dass der Guidance Officer den Anflug bei Navigationsfehlern im Steuerungssystem des Raumschiffs abbrechen konnte, dann auch nur unter größten Vorbehalten akzeptiert“, erinnert er sich.

Das Simulationstraining für Apollo 11 beginnt erst drei Monate vor dem Start. „Wir haben alles gründlich und intensiv simuliert. Wir arbeiteten an Hunderten von Problemen, die bei der Landung und beim Betreten der Mondoberfläche hätten auftreten können, und wir hätten uns jederzeit Hundert weitere vorstellen können.“ Der 16. Juli, und damit der Starttermin für Apollo 11, rückt immer näher. Bales und seine Kollegen im Kontrollzentrum hoffen inständig, dass der Notfall „Abbruch der Landung“ nicht eintreten wird.

Die längsten zwölf Minuten

Steve Bales Quelle: NASA

Am 21. Juli 1969, um 3.44 Uhr CET, gibt Flugdirektor Gene Kranz den Astronauten Armstrong und Aldrin den Befehl, das Triebwerk der Landestufe der Mondlandefähre zu zünden. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Eagle mehr als 15.200 Meter über der Mondoberfläche und 480 Kilometer von der vorgesehenen Landestelle entfernt. Die nächsten zwölf Minuten werden über Erfolg oder Misserfolg der Mission entscheiden.

Gleich beim ersten Blick auf seine Konsole sieht Bales, dass mit den Daten etwas nicht stimmt. Wegen eines Navigationsfehlers entlang der Flugbahn geht der Bordcomputer davon aus, dass sich die Landefähre mit einer Geschwindigkeit von 6,1 Metern pro Sekunde dem Boden nähert: 22,5 Stundenkilometer schneller als es tatsächlich der Fall ist. Das Limit, bei dem ein Abbruch nötig ist, liegt bei 10,7 Metern pro Sekunde. Sollte sich dieser Fehler nicht beheben lassen, wird Bales nichts anderes übrigbleiben, als das Kommando zum Abbruch des Landeanflugs zu erteilen. Bales wird Jahre später sagen: „Von diesem Moment an stand ich Todesängste aus.“

Bales überwacht die Daten sorgfältig weiter. Dann plötzlich, etwa sechs Minuten vor der Landung, sehen Armstrong und Aldrin die Ziffern „1202“ auf dem Navigationscomputer der Mondfähre blinken.

„Zwölf-Null-Zwei, Zwölf-Null-Zwei“, liest Aldrin laut ab, worauf Armstrong mit deutlich vernehmbarer Anspannung fragt: „Was bedeutet der Programm-Alarm Zwölf-Null-Zwei?“

Immer wieder Fehlercode 1202

Die Ingenieure im sogenannten „Schützengraben“, der ersten Konsolenreihe des Kontrollzentrums, die sich um alle Aspekte der Flugsysteme kümmern, halten den Atem an. Trotz des ausgiebigen Trainings und der umfassenden Simulationen und Verfahrensanweisungen für Apollo 11, ist Alarm-Meldung 1202 für den Flugdirektor und Ingenieure in Houston etwas völlig Neues.

Nicht aber für Steve Bales.

„Man konnte ihren Stimmen entnehmen, dass Code 1202 die Besatzung sehr beunruhigte“, erinnert sich Bales. Aber er und sein Software-Support-Ingenieur Jack Garman sind bei einer Simulation zwei Wochen vor dem Start auf einen ganz ähnlichen Alarm gestoßen. Dieser wurde damals ausgelöst, weil der Navigationscomputer mit so vielen Berechnungsanfragen überflutet wurde, dass er nur die Aufgaben mit der höchsten Prioritätsstufe abarbeitete.

Bales erinnert sich: „Jack Garman sagte, dass wir einfach weitermachen sollten, wenn der Alarm nicht noch einmal angezeigt würde.“ Der Alarm stelle kein Problem dar, solange er nicht allzu oft auftrat. Aber was genau bedeutet „nicht allzu oft“?

Die Mondlandung hängt in diesem Moment vollkommen in der Schwebe. Und sie ruht auf den Schultern von Steve Bales. „Ich musste entscheiden, ob das Steuerungssystem weiterhin ordnungsgemäß funktionierte.“

Steve Bales – der Entscheider im Auge des Sturms

Da die von ihm beobachteten Daten nach wie vor kein Problem zu erkennen geben, sagt er in die Richtung von Gene Kranz, dem Flugdirektor, und Charlie Duke, dem für die Verbindung zwischen Bodenstation und Raumschiff verantwortlichen Capsule Communicator, laut „Go“. Beide hören das Kommando zur selben Zeit. Bales: „Normalerweise wartet der CapCom auf die Bestätigung des Flugdirektors, dass eine Anweisung an die Besatzung weitergegeben werden kann. Aber Charlie wusste, wie wichtig es war, dass das Kontrollzentrum den Alarm mit „Go“ quittiert. Er zögerte keine Sekunde und gab der Besatzung sofort Bescheid.“

Landung auf dem Mond Quelle: NASA

Zwei Minuten später geht bei Aldrin und Armstrong ein weiterer 1202-Alarm ein, und wieder muss Bales eine Entscheidung treffen. Er bespricht sich erneut mit Garman, bevor er einen weiteren „Go“-Befehl erteilt. Die Alarme hörten nicht auf. Bales sagte: „40 Sekunden später blinkte erstmals ein 1201-Alarm auf dem Display. Meine Reaktion war: Gleicher Alarmtyp, weiterhin ‚Go’.“ Ein paar Sekunden später wird wieder Code 1202 angezeigt, und dann gleich noch einmal.

Der letzte 1202-Alarm wird in einer Höhe von weniger als 300 m über dem Mond ausgegeben. Ungeachtet der Warnsignale des Radarsystems und der Bordcomputer empfehlen zwei Ingenieure im Alter von gerade einmal 26 und 24 Jahren dem Flugdirektor und zwei erfahrenen Astronauten, die überlasteten Computer einfach zu ignorieren. Die Landefähre schwebt Richtung Mondoberfläche.

Zwei Minuten später und über 380.000 km von Bales‘ Konsole im Kontrollzentrum entfernt, überträgt ein krächzender Lautsprecher die ersten Worte eines Menschen vom Mond: „Houston, hier ist Tranquility Base....Der Adler ist gelandet.“