Lagerkoller im Weltraum

Der Isolationsforscher Jack Stuster untersucht die Zusammenarbeit von Menschen unter extremen Bedingungen. In Forschungsstationen unter Wasser oder im ewigen Eis, auf entlegenen Ölplattformen – vor allem aber im Weltall. Was können wir von ihm lernen?

Jack Stuster Quelle: NASA

Sie beraten seit 36 Jahren die NASA. Was braucht es, damit sich Astronauten im Weltall wohlfühlen und gut zusammenarbeiten?

Gemeinsame Mahlzeiten, Kontakt zur Familie, Rückzugsorte für etwas Privatsphäre, Unterhaltungsangebote wie Spiele oder Filme, ein machbares und sinnvolles Arbeitspensum, klare Regeln des Zusammenlebens und viel Verständnis – sowohl von den Missionsplanern auf der Erde als auch von den Kollegen in der Raumstation. Eigentlich einfache Dinge, die Hunderte Kilometer über der Erde aber nicht immer leicht umzusetzen sind.

Es heißt, Sie hätten auf der ISS einen großen Esstisch errichten lassen, an dem die Mannschaft einmal am Tag zusammenkommt.

Das ist nicht nur mein Verdienst. Einen Tisch gab es auf der ISS von Beginn an, aber er bot nicht genug Platz für alle Crewmitglieder. Deshalb habe ich mich dafür eingesetzt, dass alle gemeinsam essen können. Das ist heute der Fall. Andere Forscher und ich haben uns auch für separate Schlafkojen stark gemacht oder für eine Aussichtskuppel, von der aus man die Erde sehen und fotografieren kann. Die Idee habe ich von meiner Forschung zum Leben in einem Unterwasserlabor. Man muss die unwirklichsten Orte nutzen, um Erfahrungen für den Weltraum zu sammeln.

Sie forschen zu guter Teamarbeit unter extremen Bedingungen. Lassen sich die Ergebnisse überhaupt auf normale Menschen übertragen?

Ganz sicher sogar. Was mich an meiner Arbeit anfangs am meisten überrascht hat, ist, wie ähnlich sich Menschen verhalten. Egal wo sie sind und unter welchen Umständen sie zusammenkommen.

Was ist das Wichtigste, was wir hier auf der Erde von Astronauten lernen können?

Etwas, was ich mit meiner eigenen Familie immer versucht habe: mindestens einmal am Tag gemeinsam zu essen und miteinander zu sprechen. Das klingt banal, ist für Gruppen aber sehr wertvoll. Es gibt einfach keine bessere Art, sich locker zu begegnen. Aber natürlich kann man noch viel mehr lernen. Ich habe im Laufe der Zeit eine Liste mit etwa 30 Punkten erstellt.

Was steht da drauf?

Dass eine Gruppe es zum obersten gemeinsamen Ziel erklären muss, gut miteinander auszukommen. Damit das klappt, muss jeder tun, was nötig ist. Dazu gehört, sich höflich und respektvoll zu verhalten. Man sollte aufmerksam sein und anderen Unterstützung anbieten. Es hilft auch, mehr Aufgaben zu erledigen, als man muss – ohne damit zu prahlen oder sich zu beklagen. Kontroverse Themen sollte man meiden, genauso wie das Abwerten anderer. Auch nicht in Form von Humor. Sich über andere lustig zu machen ist Gift für Gruppen. Jeder sollte die Folgen seines Handelns und seiner Worte vorher bedenken und im Zweifel lieber zu viel als zu wenig Rücksicht nehmen. Das ist die wichtigste Lektion, und sie ist gerade für Alltagsdinge wichtig: kein Zeug herumliegen lassen, hinter sich aufräumen, gemeinsam genutzte Räume sauber hinterlassen. Für Männer gilt: Klappt den Toilettendeckel runter und tauscht leere Toilettenpapierrollen aus.

Jack Stuster Letter Quelle: Jack Stuster

Verzeihung, aber das klingt mehr nach Kindergarten als nach Raumstation.

Ja, die Regeln sind simpel. Aber es kann sehr schwierig sein, sich auf einfache Dinge zu besinnen. Doch im Weltraum muss es gelingen, weil die Gruppe sonst unter Stress, in Krisensituationen oder einfach auf Dauer nicht funktioniert. Mit Blick auf künftige Marsmissionen werden die Regeln sogar noch wichtiger, denn die Astronauten werden sehr viel mehr Zeit miteinander verbringen. Allein die Reise zum Mars wird mindestens sechs Monate dauern, die ganze Mission vermutlich drei Jahre. Stellen Sie sich mal vor, Sie wären über drei Jahre lang mit fünf anderen Menschen in einem Wohnwagen eingesperrt und würden damit quer durch die USA fahren. Sie können nicht raus und Sie kennen die anderen aus der Vorbereitungszeit schon sehr gut. Keine schöne Vorstellung, oder?

Allein die Vorstellung ist blanker Horror.

Und das ist ein Witz gegen eine Marsmission. Deshalb braucht es klare Regeln, die jeder beherzigt. Einzelne Menschen unter extremen Bedingungen zu beobachten ist ein bisschen, wie durch ein Mikroskop auf die ganze Menschheit zu schauen. Die wesentlichen Dinge treten stark vergrößert hervor.

Was sehen Sie unter diesem Mikroskop?

Kleine Gruppen im All machen ähnliche Erfahrungen wie große auf der Erde – aber sie nehmen sie stark übertrieben wahr. Winzige Meinungsverschiedenheiten, unbedachte Sprüche und gefühlte Grenzüberschreitungen werden dort schnell zu echten Problemen. Auf der Erde würde das meiste davon kaum ins Gewicht fallen, aber im All werden aus Kleinigkeiten Konflikte. Das wird auch in den Tagebüchern deutlich. Da regen sich Raumfahrer manchmal seitenweise darüber auf, dass ein anderer den Laptop nicht zugeklappt oder ein Werkzeug nicht zurückgeräumt hat.

Was für Tagebücher?

Ich bitte seit 13 Jahren die jeweiligen Mitglieder der ISS, für mich Tagebuch zu führen – natürlich behandele ich die Inhalte streng vertraulich. Das Hauptthema in diesen Tagebüchern ist das Arbeitspensum. Genauer gesagt der Stress, der durch Fehler bei der Missionsplanung entsteht. Meist geht es dabei um unrealistische Zeitvorstellungen der Bodencrew, denn in der Schwerelosigkeit des Alls dauert alles etwas länger.

Jack Stuster Quelle: Jack Stuster

Über das Arbeitspensum wird auch in normalen Büros oft geschimpft.

Was eine Gruppe leisten muss, wirkt sich wesentlich auf ihre Performance aus. Unrealistische Aufgaben untergraben die Leistung der gesamten Crew und beeinflussen Teams negativ. Sind die Ansprüche zu hoch, entsteht der Eindruck permanenten Scheiterns – das führt zu Frustration. Ist ein Team hingegen unterfordert, fühlen sich die Mitglieder schnell unnütz. Astronauten sind dafür besonders anfällig, denn sie wurden ja aufwendig vorbereitet und verfügen über herausragende Fähigkeiten. Gibt man ihnen keine sinnvollen Aufgaben, kommen sie sich wie überqualifizierte Hausmeister vor.

Auf der ISS arbeiten Raumfahrer aus verschiedenen Ländern und Kulturkreisen zusammen. Führt das zu Problemen?

Natürlich gibt es große kulturelle Unterschiede. Aber Raumfahrer schaffen sich schnell eine Art übergeordnete Kultur, die losgelöst von ihrer Herkunft und den Ereignissen auf der Erde funktioniert. Eine Kultur, die Unterschiede größtenteils kompensiert und gemeinsame Ziele in den Vordergrund rückt. Raumfahrer wissen, dass sie nur so zusammenarbeiten können, wenn es um ihr eigenes Überleben geht. Das ist ein ziemlich starker Anreiz, zu kooperieren.

Würden Sie eigentlich selbst gern mal ins All fliegen?

Früher hätte ich das sofort bejaht. Jetzt nicht mehr, denn ich habe eine Familie. Ich glaube, man sollte keine Kinder haben, wenn man ins All fliegt. Deshalb habe ich auch vorgeschlagen, kinderlose Ehepaare auf den Mars zu schicken. Die lange Zeit lässt sich sicher besser verkraften, wenn man niemanden vermisst und sich keine Sorgen um seine Liebsten auf der Erde machen muss. Ich sehe meine Rolle heute so: Ich will dazu beitragen, dass die menschliche Seite der Raumfahrt funktioniert. Manchmal fühle ich mich wie der Anwalt der Astronauten. Ob Postbote, Fließbandarbeiter oder Raumfahrer – jede Gruppe braucht jemanden, der sich für ihre Bedürfnisse starkmacht.